
17. Mai 2022
Für Aufregung sorgte Staatssekretär Patrick Graichen kürzlich bei einer Stadtwerketagung, als er die Kommunalversorger dazu aufforderte, besser den Rückbau ihrer Gasnetze zu planen. Michael Riechel, Präsident des DVGW und Chef des Stadtwerkeverbunds Thüga, hat nun mit einem Gastkommentar im Energate Messenger darauf geantwortet:
"Der fürchterliche Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die Energieversorgung in Deutschland sind ein dramatischer Weckruf für eine beschleunigte Energiewende. Deren Ziel, die Klimaneutralität bis 2045, impliziert zweierlei: die klimafreundliche Versorgung mit erneuerbaren Energien und die Diversifizierung der Bezugsquellen, die Deutschland unabhängiger von krisenanfälligen Monostrukturen macht.
Turbo-Entscheidungen, Top-down-Vorgaben und Technologieverbote seitens der Politik als Reaktion auf die aktuell angespannte geo- und energiepolitische Lage mögen symbolischen Wert haben, hilfreich zur Lösung der anstehenden Aufgaben sind sie jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Wenn etwa ein Staatssekretär aus dem Bundeswirtschaftsministerium die Stadtwerke dazu aufruft, mit dem Rückbau ihrer Gasnetze zu beginnen, dann ist dieser Vorstoß schlicht grob fahrlässig. Das würde nämlich nicht nur eine Vernichtung kommunalen Vermögens nach sich ziehen, sondern auch die notwendige Wärmewende unmöglich, mindestens jedoch unnötig teuer und träge machen.
Gas-Umstieg statt Gas-Ausstieg
Aus meiner Sicht muss der Appell genau umgekehrt lauten. Schon aus Gründen der Versorgungssicherheit, aber auch um die Klimaschutzziele zügig und bezahlbar zu erreichen, sollten jetzt alle Technologieoptionen genutzt werden, die hierauf einzahlen.
Eine sichere Energieversorgung muss weiterhin auf die Säulen Strom und Gas gestützt sein. Wir sollten also nicht über einen Gas-Ausstieg debattieren, sondern über einen Gas-Umstieg, der die Weichen hin zu einer klimaneutralen und sicheren Gasversorgung stellt. Dafür ist neben dem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien auch der Ausbau von erneuerbaren Gasen wie Wasserstoff und Biomethan dringend nötig.
Zum Hintergrund: Mit rund 1.300 Terawattstunden macht der Wärmemarkt rund die Hälfte des Endenergieverbrauchs in Deutschland aus. Rund jeder zweite Haushalt heizt mit Gas, das sind 19 Mio. Anschlüsse. Dazu wird die überwiegende Mehrheit des deutschen Mittelstands, der Industrie und des Gewerbes über die Verteilnetze mit Gas versorgt. Dementsprechend groß ist die Hebelwirkung von dekarbonisierten Gasnetzen für die angestrebte CO2-Neutralität. Hier liegt aus meiner Sicht der Schlüssel für die Wärmewende - und deren Umsetzung quasi auf dem Servierteller. Es gilt also unbedingt, die vorhandene Gasinfrastruktur zu nutzen und mit der zunehmenden Einspeisung von klimaneutralen Gasen wie Wasserstoff und Biomethan die Wärmewende einzuleiten. So kann der CO2-Ausstoß schnell, ohne größere Investitionen und damit sozialverträglich gesenkt werden. Und halten wir fest - allein durch zusätzliche Elektrifizierung ist der Wärmesektor nicht klimaneutral zu stellen, da das Stromnetz nicht für den Transport von großen Heizstrommengen ausgelegt ist. Der geplante Zubau von 5 Mio. elektrischen Wärmepumpen bis 2030 würde zu einer Überlastung des Stromsystems führen, wie die Studie "Wasserstoff zur Dekarbonisierung des Wärmesektors" von Frontier Economics 2021 im Auftrag des Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches zeigt.
Top down geht an der Wirklichkeit vorbei
Die Energieversorgung in Deutschland schultern zum großen Teil Stadtwerke und Regionalversorger und damit kommunale Unternehmen. Dementsprechend kann die Energiewende nur mit ihnen gelingen. Hier laufen Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten, Innovationskraft und Umsetzungskompetenz zusammen. Top-down-Vorgaben und Technologieverbote für das Energiesystem gehen an der Realität vorbei und werden an den tatsächlichen Umsetzungsmöglichkeiten vor Ort in den Kommunen und bei den Bürgerinnen und Bürger scheitern. Deshalb muss die Politik eine dezentral getriebene Energiewende stärker fördern und eine erfolgreiche Wärmewende mit klimaneutralen Gasen - ohne ideologische Scheuklappen - ermöglichen. Eine dezentrale Energiewende bedeutet vorrangig, sich um die zukunftsfähige Weiterentwicklung der kommunalen Infrastruktur zu kümmern."